Gesundheitsamt und
Zwangssterilisation
Zur lokalen Ergänzung
Der öffentliche Gesundheitsdienst in Nordfriesland
Der Norden mit den dortigen Inseln zählte zum Kreis Südtondern. Sein Gesundheitsamt befand sich in Niebüll und hatte Außenstellen auf Sylt und Föhr.
Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“
Zwangssterilisationen in den Kreisen Husum und Eiderstedt
Die Anträge auf Unfruchtbarmachung stellten die Leiter der Gesundheitsämter an die eigens eingerichteten Erbgesundheitsgerichte. Für die Kreise Husum und Eiderstedt war das Gericht in Flensburg zuständig. Falls gegen den Beschluss des Flensburger Erbgesundheitsgerichts Beschwerde eingelegt wurde, entschied das Erbgesundheitsobergericht in Kiel über den Fall. Die Sterilisationen erfolgten in den städtischen Krankenhäusern von Bredstedt und Husum. In Bredstedt führte Dr. Godt den körperlichen Eingriff durch, in Husum waren es Dr. Spethmann und Dr. Stoppel.
Anzahl der Zwangssterilisationen pro Jahr
In den Jahren 1934 und 1935 wurden 61 Männer und Jungen zwangsweise unfruchtbar gemacht, weitere 48 in den nächsten drei Jahren. In den ersten Kriegsjahren sank die Zahl der Zwangssterilisierten in den einstelligen Bereich.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Begründungen für die Zwangssterilisation
In ihren Beschlüssen gaben die Erbgesundheitsgerichte die Gründe für die Zwangssterilisation an. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ legte fest, aufgrund welcher Erkrankungen und Einschränkungen Menschen als „erbkrank“ eingestuft und deswegen sterilisiert werden konnten. Außerdem konnte unfruchtbar gemacht werden, „wer an schwerem Alkoholismus leidet“.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Alter zum Zeitpunkt der Zwangssterilisation
Aus der Liste des Staatlichen Gesundheitsamtes geht auch das Alter der Zwangs- sterilisierten hervor: Der Jüngste dort aufgeführte Junge war erst acht Jahre alt, als er unfruchtbar gemacht wurde, der älteste Mann befand sich in seinem 56. Lebensjahr.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Wohnorte der zwangssterilisierten Männer und Jungen
Das Staatliche Gesundheitsamt
Ärzte und Ärztinnen
Zusätzlich zur Stelle des Amtsarztes gab es eine Hilfsarztstelle. Diese Stelle war ab 1936 nacheinander mit Otto Schünemann, Ortrun Dollereder und Margarethe Lensch besetzt. Hommelsheim förderte vor allem Schünemann, der während seiner Tätigkeit in Husum seine Amtsarztprüfung vorbereiten und ablegen konnte.
Nach der deutschen Niederlage leitete Hommelsheim das Staatliche Gesundheitsamt Husum ohne Unterbrechung weiter. Im Juli 1945 stellte er eine Personalliste des Gesundheitsamtes zusammen. Zum Personal zählten damals fünf Beamte und dreizehn Angestellte. Die Medizinalräte Eduard Speckmann und Otto Schünemann waren zwischenzeitlich in anderen Gesundheitsämtern tätig gewesen, meist in Gebieten, die das nationalsozialistische Deutschland annektiert oder besetzt hatte. Aufgrund des deutschen Rückzugs wurden sie 1945 nach Husum zurückversetzt. Das galt auch für fünf weitere Angestellte, die wie Schünemann und Speckmann als „rückgeführt“ bezeichnet wurden.
Dr. Otto Schünemann
Karriere im Gesundheitsamt
Anfang September 1931 war Schünemann in die NSDAP eingetreten. Darüber hinaus gehörte er sowohl der SA als auch dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund an.
Schünemann schlug aus Überzeugung und mit Erfolg eine Laufbahn im öffentlichen Gesundheitsdienst ein. Im August 1936 begann er als Hilfsarzt beim Staatlichen Gesundheitsamt Husum zu arbeiten. Dessen Leiter Hommelsheim förderte seinen jungen Kollegen. Aus seinen Beurteilungen geht hervor, dass Schünemann sich besonders für erb- und rassenbiologische Fragen interessierte.
Mit dem Ziel, die Prüfung zum Amtsarzt abzulegen, bildete er sich 1937 und 1939 durch Lehrgänge und 1938 als Volontär in der Krankenanstalt Hamburg-Langenhorn weiter.
Neben seiner Tätigkeit in Husum musste er an militärischen Übungen teilnehmen. Nach seiner Prüfung im Mai 1939 arbeitete er als stellvertretender Amtsarzt weiterhin am Husumer Gesundheitsamt.
Schünemann hatte im März 1936 Anneliese Jürgs geheiratet. Das Paar hatte Zwillinge – einen Sohn und eine Tochter –, die im Juni 1938 in Husum zur Welt gekommen waren.
Als Schünemann seinen Dienst in Husum antrat, erhielt das Staatliche Gesundheitsamt ein Schreiben der NSDAP. Das Amt für Volksgesundheit der Kreise Husum, Eiderstedt und Südtondern war eine Einrichtung der Partei.
Sein Leiter erkundigte sich nach Schünemanns genauer Anschrift.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Am 5. Januar 1939 verfasste Hommelsheim für seinen Dienstherrn, den Regierungspräsidenten in Schleswig, einen Bericht über Schünemann. In seiner Beurteilung hob er sowohl Schünemanns ärztliche und menschliche Qualitäten als auch dessen Mitgliedschaft in der NSDAP hervor. Weil es sich um den Durchschlag für die Husumer Personalakte handelt, trägt das Dokument weder Stempel noch Unterschrift.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Dr. Otto Schünemann
Kriegseinsatz als Amtsarzt
Ab August 1940 leitete er das Staatliche Gesundheitsamt Kempen (Kępno), ab Oktober 1941 das Staatliche Gesundheitsamt Wreschen (Września). Seine Familie folgte Schünemann aus Husum in den sogenannten Warthegau.
© https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wartheland.png
Besatzungspolitik und Gesundheitsamt
Die Mehrheit der Menschen, die im Herbst 1939 im annektierten „Reichsgau Wartheland“ lebten, war polnisch, hinzu kamen eine jüdische und eine deutsche Minderheit. Die Nationalsozialisten wollten das Gebiet „germanisieren“: Die polnische Führungsschicht
wurde ermordet, große Teile der polnischen Bevölkerung vertrieben oder zur Zwangsarbeit verschleppt. Jüdinnen und Juden wurden in Ghettos gepfercht, deportiert und ermordet. Die deutsche Minderheit erhielt zahlreiche Privilegien und sollte zahlenmäßig durch Geburtenförderung und durch Ansiedlung von Deutschen aus dem Baltikum gestärkt werden.
Der öffentliche Gesundheitsdienst beteiligte sich aktiv an dieser rassistischen, antisemitischen und völkischen Politik. Polnischen und jüdischen Menschen wurden medizinische Heilbehandlungen verweigert. Die staatliche Gesundheitsfürsorge kam in der Regel nur der deutschen Bevölkerung zu Gute. Mitarbeiter der Gesundheitsämter forderten jüdische Ghettos, richteten sie mit ein und drängten später darauf, sie „aufzulösen“.
Amtsärzte untersuchten Polinnen und Polen, die zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich gebracht werden sollten, im Zuge der Seuchenbekämpfung auf übertragbare Krankheiten wie Fleckfieber oder Tuberkulose.
Berufskrankheit Lungentuberkulose
Nach einem längeren Kuraufenthalt starb er am 20. August 1946 in Siegen.
Am 25. Januar 1940 teilte der Regierungspräsident in Schleswig dem Staatlichen Gesundheitsamt in Husum mit, dass Schünemann mit sofortiger Wirkung an das Gesundheitsamt in Litzmannstadt (Łódź) abgeordnet worden war.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Im Oktober 1941 wurde Schünemann zum Amtsarzt am Staatlichen Gesundheitsamt Wreschen im annektierten „Reichsgau Wartheland“ ernannt. Infolge seiner Versetzung konnte die Planstelle des stellvertretenden Amtsarztes in Husum neu vergeben werden.
[Landesarchiv Schleswig-Holstein | Abteilung 611 | Nummer 2047]
Zwangssterilisation
Peter Martin P.
Peter Martin P. kam am 11. März 1905 zu Osterhever zur Welt. Im Alter von 15 Jahren überstand er die Diphterie, eine lebensgefährliche Erkrankung. Nach dem Besuch der Volksschule arbeitete er in der Landwirtschaft. Er war unter anderem als Hausknecht in einem Hotel im damaligen Sankt Peter tätig und bei einem Fuhrmann in Garding angestellt. In Garding lebte er mit seiner Mutter, einer Kriegerwitwe, in der Johannisstraße 21.
Zwei Schreiben des Bürgermeisters
Ende Februar 1936 machte der Gardinger Bürgermeister Runge das Staatliche Gesundheitsamt der Kreise Husum und Eiderstedt per Brief auf Peter Martin P. aufmerksam. Daraufhin musste Peter Martin P. am 11. März 1936 um 9 Uhr morgens beim Staatlichen Gesundheitsamt Husum erscheinen. Dort wurde er von Amtsarzt Hommelsheim untersucht und musste in einem Intelligenztest zahlreiche Fragen beantworten. Außerdem wurde ihm vorgehalten, dass zwei seiner Geschwister von Geburt an blind gewesen seien.
Hommelsheim brachte Peter Martin P. dazu, wegen „angeborenen Schwachsinns“ seine eigene Unfruchtbarmachung zu beantragen. Der Antrag ging an das Erbgesundheitsgericht in Flensburg. Das Gericht bat daraufhin die Ortspolizeibehörde von Garding um Auskunft. Dabei handelte es sich wiederum um Bürgermeister Runge. Er legte am 28. März 1936 ausführlich dar, warum Peter Martin P. seiner Meinung nach sterilisiert werden sollte. Das Erbgesundheitsgericht Flensburg beschloss am 7. April 1936, dass Peter Martin P. unfruchtbar zu machen sei. Die Sterilisation wurde am 6. Juni 1936 von Dr. Spethmann in Husum durchgeführt.
Eine amtsärztliche Bescheinigung
Nach damaligem Recht durften unfruchtbar gemachte Menschen nur mit anderen Sterilisierten eine Ehe schließen. Als Peter Martin P. und die ebenfalls zwangssterilisierte Else M. aus Tönning heiraten wollten, brauchten sie eine amtsärztliche Bescheinigung über ihre Unfruchtbarmachung.
Im März 1938 stellte das Gesundheitsamt der Kreise Husum und Eiderstedt ihnen diese Bescheinigung aus.
Peter Martin P. und Else M. heirateten am 27. Mai 1939 und lebten anschließend in der Twiete 3 in Tönning. Infolge der Zwangssterilisation wurde Peter Martin P. nicht zum Kriegsdienst herangezogen.
Peter Martin P. starb am 3. Mai 1969. Seine Witwe Else wohnte bis zu ihrem Tod am 21. Dezember 1995 in der Twiete 3.
P(…) ist mir persönlich bekannt. Er ist geistig beschränkt. Diese geistige Beschränktheit macht sich nur [dann] äußerlich bemerkbar, wenn man sich mit ihm unterhält und ihn beobachtet. Er ist körperlich groß und stark entwickelt.
Von Beruf ist er landwirtschaftlicher Arbeiter und seit Jahren bei dem Fuhrmann H. Borrmann in Garding beschäftigt.
P(…) pflegt die Pferde und arbeitet auch mit ihnen. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich selbst. Ich bin auch überzeugt, daß er selbständig durchs Leben finden wird, denn er bemühte sich immer Arbeit zu finden, auch als diese nicht reichlich war. Vor seiner hiesigen Tätigkeit war er Hausknecht in einem Hotel in St. Peter. Er führt sich tadellos, ist solide und sparsam. Der Gedanke, daß seine Eigenschaften auf etwaige Kinder vererbt werden könnten, veranlaßt mich, die Prüfung der Unfruchtbarmachung anzuregen.
Ich sah ihn im vorigen Monat in den Abendstunden auf einem Ball des Boßelvereins seines Stadtbezirkes tanzen. Er benahm sich dort einwandfrei, sodaß Bekanntschaften mit Frauen, die er bei solcher Gelegenheit macht, immerhin zum Geschlechtsverkehr führen können. […]
Zwei Geschwister von P(…) sollen in der Irrenanstalt gewesen sein, eins davon soll ohne Augen geboren und eins dem Schwachsinn verfallen sein.
Der Bürgermeister als Ortspolizeibehörde
Runge“
Auf Nachfrage des Erbgesundheitsgerichts Flensburg verfasste der Gardinger Bürgermeister Runge am 28. März 1936 das hier zitierte Schreiben. Runge erläuterte ausführlich, warum Peter Martin P. seiner Meinung nach sterilisiert werden sollte.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Zwangssterilisation
Margarete D., geborene B.
Im Frühjahr 1938 wurde Margarete D. schwanger und bekam psychische Probleme. Ihr Arzt überwies sie im Herbst 1938 in die Universitäts-Nervenklinik in Kiel.
In Kiel wurde Margarete D. von Prof. Dr. Hans Gerhard Creutzfeldt behandelt. Am 11. November 1938 stellte Creutzfeldt einen Antrag, sie aufgrund von Schizophrenie unfruchtbar zu machen.
Nach ihrer Heirat wohnten Margarete und Wilfried D. in der Norderstraße 11. Auf dem Anfang des 20. Jahrhunderts aufgenommenen Foto handelt es sich um das vierte Gebäude von links.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Am 13. Februar 1939 brachte Margarete D. einen gesunden Sohn zur Welt. Nach der Geburt besserte sich auch ihr seelischer und geistiger Zustand. Trotzdem wies das Erbgesundheitsobergericht Kiel die Beschwerde von Wilfried D. am 3. Mai 1939 zurück. Am 17. August 1939 wurde Margarete D. in Königsberg zwangsweise sterilisiert.
Margarete und Wilfried D. wurden 1940 geschieden. Margarete heiratete erneut und lebte während des Zweiten Weltkriegs mit ihrem Sohn in Königsberg. Sie starb am 31. März 1946 in Ponarth bei Königsberg. Ihr Sohn wuchs zunächst bei den Eltern ihres zweiten Ehemanns auf. Ende der vierziger Jahre holte sein Vater ihn zu sich nach Norddeutschland.
Zwangssterilisation
Drei Geschwister aus Rantrum
Heinrich H. und seine Frau Dora lebten in Rantrum und hatten sieben Kinder. Die vier Jungen und drei Mädchen waren zwischen 1900 und 1916 zur Welt gekommen. Einer der Söhne starb im Alter von fünf Jahren bei einem Unfall. Zwei der Jungen waren fast taub und eines der Mädchen schwerhörig.
Das Staatliche Gesundheitsamt der Kreise Husum und Eiderstedt begann 1939, sich für die gehörgeschädigten Geschwister zu interessieren. Johannes, Peter und Marie H. waren längst erwachsen und berufstätig. Am 11. Januar 1940 mussten sie beim Gesundheitsamt in Husum erscheinen. Dort untersuchte der stellvertretende Amtsarzt Schünemann die drei und fertigte Gutachten über sie an. Am selben Tag beantragte Amtsarzt Hommelsheim ihre Unfruchtbarmachung. Die beiden Ärzte begründeten die Anträge an das Erbgesundheitsgericht Flensburg mit „erblicher Taubheit“. Für weitere Auskünfte über die Geschwister verwiesen sie auf deren Eltern und auf die Gesundheitspflegerin Maria Volquartz. Außerdem nannten sie die Schulen, die Johannes, Peter und Marie besucht hatten.
Das Erbgesundheitsgericht Flensburg bat daraufhin den Schulleiter von Rantrum und den Ortsvorsteher von Mildstedt um Auskunft. Beide konnten nicht berichten, dass es in der Familie H. und ihrer weiteren Verwandtschaft Fälle von Taubheit gegeben hätte. Daraufhin beschloss das Erbgesundheitsgericht am 28. Februar 1940,…„ein Gutachten der Universitäts-Ohrenklinik in Kiel darüber einzuholen, ob Peter H(…), Johannes H(…) und Marie H(…) an erblicher Taubheit im Sinne des Gesetzes vom 14. Juli 1933 leiden.“ [Kreisarchiv Nordfriesland]
Die Ärzte der Kieler Universitäts-Ohrenklinik untersuchten die Geschwister am 20. März 1940. Sie erstellten drei ausführliche Gutachten, auf die sich das Erbgesundheitsgericht bei seinem Beschluss stützte.
Peter H. wurde ebenso wie Johannes und Marie per Postkarte aufgefordert, sich in Kiel untersuchen zu lassen.
Auf der Rückseite jeder Postkarte bestätigte die Universitäts-Ohrenklinik, dass die Untersuchung stattgefunden hatte.
Für das Gutachten der Universitäts-Ohrenklinik war eine Fahrt nach Kiel erforderlich. Am 20. März 1940 wurden Peter, Johannes und Marie H. von ihrer Schwester Paula dorthin begleitet. Um rechtzeitig anzukommen, mussten sie frühmorgens einen Zug nach Neumünster nehmen und von dort nach Kiel fahren. Nach dem Besuch der Universitätsklinik verbrachten sie den Nachmittag in der Stadt. Abends fuhren sie mit dem Zug über Rendsburg zurück nach Rantrum.
Die entwerteten Fahrkarten von Rantrum nach Neumünster, von Neumünster nach Kiel und von Kiel nach Rantrum reichte Paula H. beim Erbgesundheitsgericht Flensburg ein. Die Geschwister hatten die Kosten für die Fahrt zur Universitäts-Ohrenklinik und für das Mittagessen in Kiel vorgestreckt.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Zwangssterilisation
Gehörlos oder schwerhörig?
Johannes H.
Johannnes H., geboren am 5. November 1906 in Rantrum, war fast taub. Dennoch wurde er 1913 in Rantrum eingeschult. Der Schulleiter schlug 1919 vor, ihn nach Schleswig zur Landes-Gehörlosenschule zu schicken, doch sein Vater war dagegen. 1922 wurde Johannes H. aus der Volksschule entlassen. Anschließend lebte er als Landarbeiter weiter bei seinen Eltern.
Johannes H. wollte nicht sterilisiert werden. Das teilte er dem Erbgesundheitsgericht Flensburg Ende Januar 1940 mit. Im März 1940 musste er sich zusammen mit seinen beiden Geschwistern in der Universitäts-Ohrenklinik in Kiel untersuchen lassen.
Das Gutachten der Universitäts-Ohrenklinik besagte, dass Johannes H.s Taubheit erblich sei. Daraufhin beschloss das Erbgesundheitsgericht Flensburg am 23. April 1940, dass er sterilisiert werden sollte. Er wurde am 4. Juni 1940 im Krankenhaus Husum von Dr. Stoppel unfruchtbar gemacht. Anschließend lebte er weiterhin in Rantrum. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlitt Johannes H. in der Nähe von Ohrstedt ein Zugunglück. Er starb am 20. Januar 1948 in Schleswig.
Am 27. Mai 1940 wurde Johannes H. von Amtsarzt Hommelsheim aufgefordert, sich bis binnen 14 Tagen im Städtischen Krankenhaus in Husum zur Unfruchtbarmachung aufnehmen zu lassen. Als Ende der Frist wurde der 10. Mai 1940 eingetragen, der zum Zeitpunkt des Schreibens bereits verstrichen war. Auf der Rückseite des Formulars wurde angekündigt: „Sollte diese Aufforderung nicht befolgt werden, so muß nach den gesetzlichen Bestimmungen die Unfruchtbarmachung gegen Ihren Willen evtl. durch polizeilichen Zwang vorgenommen werden.“
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Marie H.
Marie H. kam am 21. September 1911 in Rantrum zur Welt. Trotz ihrer Schwerhörigkeit wurde sie 1918 in Rantrum eingeschult. Sie wurde 1926 mit der Beurteilung„Führung: sehr gut, Fleiß: gut“ und mit schriftlich genügenden Leistungen in Deutsch und Rechnen aus der Volksschule entlassen. Anschließend machte sie eine dreijährige Ausbildung zur Schneiderin und übte dann in Rantrum ihren Beruf aus.
Im Januar 1940 beantragte Amtsarzt Hommelsheim beim Erbgesundheitsgericht Flensburg, Marie H. wegen „erblicher Taubheit“ unfruchtbar zu machen. Daraufhin teilte Marie H. dem Gericht mit, dass sie die Unfruchtbarmachung verweigerte. Am 23. April 1940 lehnte das Erbgesundheitsgericht Flensburg die Sterilisation von Marie H. ab. Dabei berief es sich auf das Gutachten der Kieler Universitäts-Ohrenklinik:
„Nach dem Gutachten ist Marie H(…) stark schwerhörig, Flüstersprache versteht sie nicht, Umgangssprache wird rechts verstanden bis zu ½ m Entfernung und links am Ohr. Es ist auch anzunehmen, daß der Gehörmangel auf Erbanlage beruht. Trotzdem kann die beantragte Unfruchtbarmachung nicht angeordnet werden, da der Gehörmangel nicht den Grad der Taubheit erreicht.“
Am 18. Januar 1940 teilte der Hauptlehrer der Rantrumer Schule dem Erbgesundheitsgericht Flensburg mit, welche Informationen er über Johannes und Marie H. und über Familie H. zusammengetragen hatte.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
An den
Vorsitzenden des Erbgesundheitsgerichts
Flensburg
Auf das dortige Schreiben XIII.4/40 vom 15. Januar 1940 teile ich folgendes mit: Ich weigere mich, die Unfruchtbarmachung bei mir vornehmen zu lassen.
Die Weigerung begründe ich wie folgt:
In dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (Erbgesundheitsgesetz) […] sind zur Unfruchtbarmachung u.a. auch mit erblicher Taubheit Belastete vorgesehen. Da ich aber nicht taub, sondern nur schwerhörig bin, findet das Gesetz auf mich keine Anwendung, zumal ich nicht taub geboren bin. Von einer erblichen Belastung meinerseits kann auch nicht gesprochen werden, da Nachforschungen in der Familiengeschichte keinen Fall von Taubheit aufweisen. Außerdem bin ich im Besitze meiner völligen geistigen und körperlichen Kräfte. Der Beweis findet sich dadurch gegeben, daß ich in der Schule nie sitzengeblieben bin. Außerdem habe ich nach meiner Schulentlassung drei Jahre das Handwerk der Schneiderin gelernt und die Gehilfinnenprüfung mit gut bestanden. Diesen Beruf fülle ich heute noch voll aus. Ernstlich erkrankt bin ich nie gewesen.
Heil Hitler!
Marie H(…)“
Am 23. April 1940 lehnte das Erbgesundheitsgericht Flensburg die Sterilisation von Marie H. ab. Dabei berief es sich auf das Gutachten der Kieler Universitäts-Ohrenklinik.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Zwangssterilisation
Keine sofortige Beschwerde
Peter H.
Peter H. wurde am 19. Januar 1908 in Rantrum geboren. Seine Taubheit wurde bemerkt, als er vier Jahre alt war. Er besuchte von 1915 bis 1924 die Landes-Gehörlosenschule mit Heim in Schleswig und machte dort auch eine Ausbildung zum Schuhmacher. Danach betrieb er ein eigenes Schuhmachergeschäft in Rantrum. 1931 trat er in die NSDAP ein.
Zusammen mit Amtsarzt Hommelsheim stellte Peter H. am 11. Januar 1940 einen Antrag auf seine eigene Unfruchtbarmachung. Am 23. April 1940 beschloss das Erbgesundheitsgericht Flensburg, dass er wegen „erblicher Taubheit“ zu sterilisieren sei. Peter H. legte keine sofortige Beschwerde dagegen ein. Er wurde am 3. Juni 1940 im Krankenhaus Husum von Dr. Stoppel unfruchtbar gemacht. Weil sterilisierte Männer als „wehruntauglich“ galten, wurde er nicht zum Kriegsdienst einberufen.
Verweigerte Entschädigung
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Peter H. weiterhin als selbständiger Schuhmacher in Rantrum ansässig. Im Januar 1957 stellte er einen Antrag auf Entschädigung für seine Zwangssterilisation. Grundlage dafür war das Entschädigungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 19. September 1953. Entschädigt werden konnten damals nur Menschen, die aufgrund ihrer politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus, ihrer „Rasse“, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung verfolgt oder durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen geschädigt worden waren. Am 31. März 1958 lehnte das Landesentschädigungsamt Schleswig-Holstein den Antrag von Peter H. ab.
Die Ablehnung wurde zum einen damit begründet, dass Peter H. am 1. April 1931 in die NSDAP eingetreten war. Er gab zwar an, aus beruflichen Gründen zum Eintritt in die Partei gezwungen gewesen zu sein, um weiterhin seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Laut Bundesentschädigungsgesetz konnten Mitglieder der NSDAP aber generell nicht entschädigt werden.
Zum anderen berief das Landesentschädigungsamt sich darauf, dass Peter H.s Unfruchtbarmachung rechtmäßig gewesen sei. Der Bundestag änderte diese Rechtslage erst 1988. Weitere zehn Jahre vergingen, bis die Urteile der Erbgesundheitsgerichte 1998 aufgehoben wurden.
Der Beschluss des Erbgesundheitsgerichts in Flensburg, dass „der Schuhmacher Peter H. In Rantrum“ unfruchtbar zu machen sei, wurde ihm am 3. Mai 1940 zugestellt. Peter H. verzichtete darauf, eine sofortige Beschwerde dagegen einzulegen. Das teilte das Erbgesundheitsobergericht in Kiel dem Erbgesundheitsgericht in Flensburg am 21. Mai 1940 mit. Der Gerichtsbeschluss vom 23. April 1940 wurde somit am 25. Mai 1940 rechtskräftig.
Mit der Rechtmäßigkeit des damaligen Gerichtsverfahrens begründete das Landesentschädigungsamt Schleswig-Holstein am 31. März 1958, dass es den Entschädigungsantrag von Peter H. ablehnte.
[Kreisarchiv Nordfriesland]
Danksagung
Wir danken den folgenden Einrichtungen
Amt Pellworm, Bezirksregierung Düsseldorf, Bibliothek der Medizinischen Hochschule Hannover, Deutsche Geologische Gesellschaft, Dorfmuseum Rantrum, Einwohnermeldeamt Drebach, Einwohnermeldeamt Südheide, Gedenkort T4, Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Geozentrum Hannover, Geschichtsverein Eschweiler, Kreisarchiv Landkreis Celle, Kreisarchiv Nordfriesland, Landesarchiv Berlin, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Museumsverbund Nordfriesland, Niedersächsisches Landesarchiv – Abteilung Hannover, Staatsarchiv Hamburg, Stadtarchiv Bonn, Stadtarchiv Elmshorn, Stadtarchiv Hannover, Stadtarchiv Moers, Stadtarchiv Bad Pyrmont, Stadtverwaltung Kaltenkirchen, Standesamt Eschweiler, Standesamt Gelenau, Standesamt Husum, Standesamt Zschopau, Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
Impressum
Ausstellungsimpressum
- Herausgeber: Kreis Nordfriesland/ Husum-Schwesing | KZ-Gedenkstätte und Haus der Gegenwart in Kooperation mit dem Kreisarchiv Nordfriesland
- Konzept, Recherche, Text: Dr. Janine Doerry, Marlo Grieving
- Webdesign: Philipp Cordts
- Wissenschaftliche Beratung: Dr. Antje Petersen, Prof. Dr. Sabine Schleiermacher
- Lektorat: Philipp Cordts, Nathalie Gerstle, Lena Kühl
- Gestaltung: Uli Heid
- Nutzungsrechte für Bilder und Dokumente: Dorfmuseum Rantrum, Kreisarchiv Nordfriesland, Landesarchiv Schleswig-Holstein
Impressum Website
Kreis Nordfriesland
Johanna Jürgensen
König-Friedrich V.-Allee
Schloss vor Husum
25813 Husum
stiftung@nordfriesland.de
04841-89730
www.husumschwesing.de